Much Wullekatte       

Bücher, Kunst und Musical

Jürgen Wohlfart, mail: Wohlfart.J@googlemail.com

 

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  Leseprobe Mülltonnenkacker

 

Wie man eine Rolle Klopapier aufhängt

„Geh heim und häng deine Scheißhausrolle verkehrt herum auf!“

Er richtet sich auf und sieht mich mit weit geöffneten, ungläubigen, kornglasigen Augen durch den Schleier, den seine Tränen der letzten zwei Stunden hinterlassen hatten, an. Wenn ich mit meiner kleinen Tochter Tauchspiele im Schwimmbad mache und sie dabei unter Wasser anschaue, dann sehen ihre Augen genau so aus, wie jetzt die seinen. Er taucht jetzt schon zwei Stunden, und ich denke, er wird nun bald absaufen.

Vor zwei Stunden war ich in meine Bar gekommen und ich Idiot habe mich genau neben ihn gesetzt, obwohl noch zwei andere Hocker an der Theke frei waren. Bei meinem Eintritt hatte ich die Situation schnell abgecheckt und mich dann für diesen Platz entschieden. Diesen verdammten Platz neben ihm, der zweite Hocker rechts außen. Ich wollte eigentlich nur in Ruhe ein Glas Bier trinken, bloß kein dummes Gequatsche. Und der Platz neben ihm war für mich deshalb so verheißungsvoll gewesen. Denn er war in sich zusammengesunken und sein Blick schien starr an Britta, der üppigen Bardame zu haften, in Wirklichkeit starrte er aber ins Leere. Aber das hatte ich da noch nicht begriffen. Links von ihm, neben dem freien Hocker, saß ein Pärchen tief in ein Gespräch und Geturtel versunken. Er hatte grau melierte, seriöse Schläfen und sie trug ein zu kurzes, rotes Minikleid, das einladend und erwartungsvoll so gerade eben die Strumpfbandhalter versteckte. Der Platz neben ihm versprach mir Ruhe und Ruhe war genau das, was ich suchte. Ich hatte eine langatmige Konferenz hinter mir und das Gequatsche, Zugehöre, pädagogische Geschwafel, Gelobe für Selbstverständlichkeiten, Einlenken, obwohl mir nach Ausrenken zumute war, hatte in mir das tiefe Bedürfnis nach Entspannung anwachsen lassen.

Britta kennt mich schon ein paar Jahre und stellt unaufgefordert ein Pils vor mich hin. Sie weiß, dass in meiner Verfassung schon die Frage „Was darf ich dir bringen?“, zu viel Konversation ist. Außerdem ist die Frage ohnehin überflüssig, da ich immer nur Pils trank. Die gute Britta, einfühlsam und emphatisch, hat immer ein Gespür für die Verfassung ihrer Stammgäste. Kaum hatte der Schaum des fachmännisch gezapften Bieres meine diskussionstrockenen Lippen benetzt, da dreht er sich leicht schwankend zu mir hin und quatscht mich mit sprühnebelfeuchter, korniger Stimme an.

Er wirkt, als hätte er schon tausend Jahre darauf gewartet, dass sich endlich jemand zu ihm setzt und ihm zuhört. „Bist du verheiratet?“, fragt er mich. „Oh Gott!“, denke ich, „nur das nicht!“, und tue so, als ob ich nichts gehört hätte. Mein saharatrockener Mund füllt sich mit einem köstlich prickelnden Pilstropenregen, aber er lässt nicht locker und erzwingt meine Aufmerksamkeit mit einem unmissverständlichen Schubser gegen meine Trinkhand. Dabei kippt das Bierglas in Richtung Schnauzer nach oben, aber auch der kann das unvermeidliche Überschwappen nicht verhindern und so ergießt sich eine Pilswelle in meine Nasenlöcher und verursacht dort ein Gefühl, das dem der Salzwasserspülung, verabreicht durch meinen HNO-Arzt bei meiner letzten eitrigen Angina, sehr ähnlich ist. Gerade will ich ihm meine Verärgerung ins Gesicht brüllen, da kann ich es schon nicht mehr, weil ich ihn in diesem Moment zum ersten Mal richtig anschaue. Immer wieder mache ich diese Fehler, meinem Ärger zu wenig Luft zu verschaffen, weil ich wirklich nur selten jemandem wehtun kann. Deshalb tanzt mir hin und wieder die ganze Welt auf dem Kopf herum. Auch dieses Mal bekommt mein Ärger keine Luft, da ich in einem winzigen Sekundenbruchteil dieses verzweifelte Gesicht, diese todtraurige Mimik, diese zusammengesackte, skelettlose Gestik verstehe. Rötlich-braun bekränzter, prall aufgeblasener, doppelkinniger, bebrillter, basketballgroßer und -runder Kopf mit eng anliegenden, im Wangenfett fest eingebetteten Nierenohren, die mich an eine Miniaturausgabe der blätterteigigen Schweinsohren in der Gebäckauslage meines Bäckers erinnern. Halslose, pyknische, fettleibige Gestalt. Unter dem prallgefüllten Seidenstickerhemd, vermutlich Kragengröße 58, zeichnen sich Dutzende Specklappen ab, die sich wie die Schuppen einer Kellerassel übereinander schieben. Der braun karierte Schlips ruht ordentlich auszentriert auf diesem mächtigen Gewölbe, das Mittelstück ruht auf ihm fast in der Waagerechten, um dann in Richtung der in Relation zum Leib schmächtig wirkenden Beine steil abzufallen. Der mächtige Bauch zwingt diese zur Grätsche, die unteren Specklappen scheinen sie wie ein Airbag auseinander zu zwingen und ruhen auf dem kleinen Stück Sitzfläche des Hockers, den das zu schmal geratene Gesäß frei gelassen hat. Mir fällt ein, dass ich in der Sauna erst kürzlich einen ebenso Fettleibigen gesehen hatte. Auch bei ihm war das Gesäß im Verhältnis zur Gesamtmasse entschieden zu klein ausgefallen. Das gesamte Gemächt war völlig unsichtbar versteckt, eingebettet in einem Tunnel aus Fett. Auch bei meinem Barnachbarn kann ich mir in diesem Moment gut vorstellen, dass er seinen kleinen Freund wohl schon lange Jahre in seinem Fettgrab beerdigt hält und für den Eintritt in die Höhle der Lust wird er auch in erigiertem Zustand wohl kaum seinen Sarg verlassen können. „Armer Kerl!“, denke ich mitleidig, „Fresslust frisst Sexlust und reduziert die Lebensfreude auf das Ereignis, den das Eindringen des ölig-fettigen, matschigen Speisebreis in den Pförtner des Magens verursacht. Auch eine Art Orgasmus!“, denke ich und schnäuze mir dabei die übergeschwappte Pilsflüssigkeit aus den fremdkörpergestressten Nasenlöchern.

„Nein!“, antworte ich entschieden zu sanft auf seine Frage, „ich bin geschieden!“ Diese paar Worte sollen nun mein Gesprächsbeitrag für die nächsten zwei Stunden bleiben. Mein Barnachbar fragt, ohne eine Antwort zu erwarten, redet, heult, weint, jammert, gluckst, blubbert, winselt, zweifelt, bereut, lallt und quasselt mich die nächsten zwei Stunden lang voll. Er unterbricht seine Beichte nur ab und zu, um immer mal wieder einen Korn zwischen seine wulstigen Lippen zu kippen. Sauber aufgereiht stehen 16 leere Schnapspinnecken vor ihm auf der Theke. Er erlaubt Britta nicht, sie wegzuräumen. Immer wieder ordnet er sie neu, richtet sie in Reih und Glied aus wie Zinnsoldaten, die für ihn die Sandkastenschlacht seines Lebens führen sollen. Sie stellen die Ordnung dar, die in seinem Inneren nicht mehr herrscht. In ihm tobt der Krieg in voller Intensität, jedoch ohne jegliche Schlachtordnung. Hin und wieder ordnet er seinen Schlips neu, der durch das von Schluchzern ausgelöste Bauchbeben aus seiner angestammten Lage gehüpft war. Oder er poliert unter allem Einsatz ihm zur Verfügung stehender Beweglichkeit seine glänzend-schwarzen Lackschuhe mit einem spucke-, rotz- und tränenfeuchten Tempotaschentuch. Davon türmen sich mittlerweile Zahllose in entfremdeten Aschenbechern zu einem Gebirge der Verzweiflung auf, da die diese Sekrete aussprühenden Sinnesorgane einfach nicht versiegen wollten. Massen von Tränenperlen kullern das fettig-fleischige Wangenmassiv hinab und die, welche der Tempozellulose entkommen können, werden von den Doppelkinnfalten in Richtung Schlipsknoten abgelenkt, vermischen sich vorher mit den Schweißperlen, die unentwegt auf der hohen Stirn geboren werden und in zwei Bachbetten auf beiden Seiten die Schweinsöhrchen passieren, um dann mit den Tränen vereint zu einem Strom der Trauer und Schwermut anzuschwellen und auf dem gestärkten weißen Seidenstickerhemd eine sich stetig ausdehnende, brusthaarschimmernde Sumpflandschaft bilden, die mich in ihrem Aussehen an das riesige sand- und geröllschwangere Delta des Nils erinnert.

„Sie will mich verlassen, nach 21 Jahren“, jammert er mir vor, wobei jede Silbe von einem Schluchzjapser von der folgenden getrennt wird. „Stell dir vor, 21 Jahre Ehe, in der immer alles seine Ordnung hatte!“ Und dann erzählt er von Bausparverträgen, Sicherheitsschlössern, Veloursteppichböden vom Feinsten, englischem Rasen, Stollenwand, Unkrautvernichter und Löwenzahnausstechen; von Sauberkeit und Ordnung im ganzen Haus, von seinem Bücherregal, in dem jedes Buch seinen festen Platz hat, vom Briefmarkensammeln, von Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit – Frühstück um 7 Uhr, Mittagessen um 12.15 Uhr, Abendessen um 18.30 Uhr – immer, auch sonntags, sommers wie winters; von Autoreifen, bei denen immer die Felgen entrostet und das Gummi gewaschen und poliert wird; von pünktlichen Inspektionen und Ölwechseln; von Autowaschen am Samstag; von Rinderrouladen und Schweinerollbraten, die sich immer sonntags im 14-tägigen Rhythmus  als Mittagsmenü (auch um Punkt 12.15 Uhr!) abwechselten; von gemütlichen Fernsehabenden, pünktlich um 20.00 Uhr mit der Tagesschau beginnend und um 22.15 nach dem Heute-Journal endend, wobei ihm seine Frau immer eine Flasche Bier und eine Schale Erdnussflips bereitstellte; vom Putztag am Freitag, vom Fensterputzen am 1. Samstag jeden Monats; von selbst gepflanzter Hecke, die drei Mal im Jahr so perfekt beschnitten wird, dass die Nachbarn vor Neid erblassen; vom Schlafengehen um 22.30 Uhr, von nächtlichen Mindestschlafzeiten über siebeneinhalb Stunden, von sauber aufgerollten Zahnputztuben, von 4-Minuten-Eiern; von seiner Arbeit im Finanzamt, Stechuhr um 8.00 Uhr, sauber geordnete Aktenberge von Einkommenssteueranträgen („Stell dir vor, da wollte ein Lehrer das Dekameron absetzen!“), von Klopapierrollen, die seine Frau trotz seiner Belehrungen immer einmal wieder verkehrt herum aufgehängt hat und so weiter, und so weiter.

Mir platzt bald der Kopf. Aus den Augenwinkeln sehe ich Britta, die mir mittlerweile mein sechstes Pils hinstellt und dabei mitfühlend lächelt. Das Liebespärchen links von mir hatte sich wohl von dem Trauerfettkloß gestört gefühlt und von mir unbemerkt die Bar verlassen. „Der Grau-Melierte wird ihr wohl gerade die strumpfbandverzierten Schenkel auseinander drücken, und ich Idiot sitze hier und muss mir die Flennbeichte dieses Ordnungsfanatikers anhören“, denke ich, nun doch verständlicherweise etwas angekratzt.

„Nach 21 Jahren ordentlich geführter Ehe will sie morgen ausziehen und stell dir vor, in acht Wochen, am 01.10. ist die letzte Rate für unser Haus fällig. Kannst du das verstehen?“

Natürlich verstehe ich das. Ich gebe Britta ein Zeichen, dass ich zahlen will, lege abgezählte 15 Deutsche auf die Theke (immer drei Mark Trinkgeld für Britta!), trinke die letzte Pfütze aus und erhebe mich.

Und dann sage ich das mit dem Klopapier: „Geh heim und häng deine Scheißhausrolle verkehrt herum auf!“

 Und er ist verdutzt und sprachlos. Nicht etwa, weil er den gut gemeinten Rat versteht, nein, weil diese meine Aussage so völlig daneben ist, völlig außerhalb seines Denkens und Fühlens, das 21 Jahre seine Beziehung gequält hat.

„Und dann quetschst du die Zahnpastatube krumpelig, lässt sie unverschlossen liegen, schmeißt deine Klamotten auf den Flur, stellst den Wecker auf 8.12 Uhr, frühstückst ein 8-Minuten-Ei, gehst unrasiert in Cordhose, Polohemd und abgelatschten Turnschuhen erst um 9.17 Uhr ins Amt und lässt den Lehrer sogar seine Pornohefte absetzen!“

Und dann gehe ich. Ich bin fest davon überzeugt, dass er mich nicht verstanden hat.

 

Mülltonnenkacker (Auszug) 

 Es war im Sommer 1964. Nach den Sommerferien hatte für mich, wie für alle Dreizehnjährigen, der zweijährige Konfirmandenunterricht begonnen. Damals wurden Jungen und Mädchen noch streng getrennt in die Lehre Gottes eingewiesen. Ich fragte mich natürlich, ob es für Jungen und Mädchen andere Glaubensgrundsätze gab. Jedenfalls verstand ich die strikte Trennung nicht. Unser Pfarrer, sein Name ist mir schon längst entfallen – vielleicht habe ich ihn aber auch verdrängt –, war eine mächtige Erscheinung. Wenn er in seiner vollen Größe durch die Tischreihen wandelte und seinem frommen Mund das Glaubensbekenntnis entsprudelte, hatten wir kleinen, sitzenden Vorkonfirmanden immer das Gefühl, als kämen die Worte direkt aus der Höhe des Himmels zu uns. Wir kannten den wohlgenährten Körper unseres Pastors nur eingehüllt in einen langen schwarzen Talar, was seine mächtige Erscheinung ins Riesenhafte vergrößerte. Als er uns einmal die Geschichte von David und Goliath erzählte, war die Rollenverteilung sofort klar: Wir waren die unscheinbaren Davide, er der mächtige riesenhafte Goliath. Seine dicken Backen waren rosig, auf ihnen thronte eine braun-cremefarbene Hornbrille, die allerdings nicht durch die viel zu klein geratene Stupsnase, sondern eher durch die fleischigen Wangen Halt fand. 

Der Konfirmandenunterricht fand in der alten Grundschule, direkt neben der Kirche im Zentrum des kleinen Ortes statt. Es war ein baufälliger Fachwerkbau, den Dielen entströmte der Staub von unzähligen Schülergenerationen. In dem altehrwürdigen Gebäude befanden sich noch nicht einmal Waschgelegenheiten oder Toilettenanlagen. Wer ein menschliches Bedürfnis verspürte, musste aus dem Hauptgebäude raus, quer über den Schulhof laufen, um dann durch eine schwere, mit Eisen beschlagene Tür in ein separates, ebenso baufälliges Toilettenhäuschen zu gelangen. Am Nachmittag war das kleine Häuschen verschlossen und man musste erst beim Pfarrer um den Schlüssel bitten. Rund um Kirche, Schule und Toilettenhaus standen schöne alte mittelalterliche Fachwerkhäuser, die von ihren Besitzern auf das Schönste herausgeputzt waren.

Ich saß also an einem warmen Sommertag mit weiteren 16 Vorkonfirmanden im ersten Stock der alten Schule und versuchte mich auf den monotonen Vortrag über die zehn Gebote zu konzentrieren. Der Pfarrer schritt mit ehrfurchtsvoll gefalteten Händen durch die Tischreihen und die wenigsten seiner Schäfchen lauschten seinen Worten, da man durch das geöffnete Fenster das Lärmen spielender Kinder vernahm. Unter ihnen waren sicher auch schon ein paar der Vorkonfirmandinnen, die ja nach uns in den zweifelhaften Genuss von des Pfarrers Unterweisung kommen sollten. Da die Sonne ihre warmen Strahlen auch zu uns in die triste Stube schickte, fiel uns das Stillsitzen umso schwerer.

Zum Mittag hatte die Mutter Sauerkraut mit Bauchfleisch gemacht und schon immer hatte mein Magen gerade auf das saure Kraut äußerst empfindlich reagiert. Zu meinem Leidwesen sollte das auch an diesem Nachmittag so sein. Ich saß in meiner Schulbank und merkte, wie sich allmählich entsetzliche Bauchschmerzen ankündigten. Artig hob ich den Finger, um die Erlaubnis zu dem notwendig gewordenen Toilettengang zu erfragen. Der Pfarrer willigte sofort ein, da er schon sah, dass mich ein heftiges Zwicken im Gedärm quälte. Gekrümmt vor Schmerzen und den Bauch haltend rannte ich aus dem Klassenzimmer. Die übrigen Jungs waren durch die unerwartete Unterbrechung aufgewacht und begleiteten meine Flucht aus dem Raum mit einem hämischen Grinsen. Ich stürzte die Treppe hinunter, rannte so schnell es eben ging über den Kirchhof, direkt auf das Erlösung verheißende Toilettenhäuschen zu, das sich etwas abseits vom Schulhof, hinter einigen Haselnusssträuchern verborgen, befand. Jeder weiß ja wie das ist: Unmittelbar vor der erhofften Befreiung des Druckes verstärkt sich dieser noch einmal und oft bekommt man gerade noch im allerletzten Moment die Hose herunter. Das zeitraubende Herumfingern an Hosenlatz und Bundverschluss kann dann nur noch mit ununterbrochenem Getrampel ertragen werden. Genau in diesem Zustand befand ich mich nun. Endlich hatte ich das Häuschen erreicht, ich knallte die schwere Eisenklinke herunter ... zu! 

Verdammt! In meiner Notsituation hatte ich vergessen, den Pfarrer um den Schlüssel zu bitten. Also wieder zurück. An ein schnelles Laufen war jetzt allerdings nicht mehr zu denken, da der mächtig strapazierte Schließmuskel dem Eruptionsdruck kaum noch standhalten konnte, zu erschlaffen drohte und somit dringend der Unterstützung der beidseitigen Backen bedurfte. Ein zu schneller Schritt hätte den beiden Nothelfern die entscheidende Kraft geraubt. Also schlich ich mehr denn ich lief über den Schulhof und jedermann, der mich beobachtete, konnte an meiner unnatürlich gekrümmten Haltung meine Not erahnen. Meine zusammengekniffenen Backen sprachen ja auch eine überdeutliche Sprache. Zum Glück erregte ich zu diesem Zeitpunkt bei den in ihr Spiel vertieften Kindern auf dem Schulhof nur wenig Aufmerksamkeit.

Meine Bauchschmerzen waren mittlerweile fast unerträglich geworden. Ich schleppte mich mit Mühe die Treppe hinauf, öffnete ohne anzuklopfen die Klassentür und unterbrach den Pfarrer gerade im Gebet des Vaterunser. Seinem Mund waren gerade die Worte „Erlöse uns von dem Übel" entsprudelt und trotz meines durch die Pein betäubten Gehirns konnte ich noch über die für mich so wahrhaftig gewordene Bedeutung dieser Worte nachdenken.

Dann aber schrie ich es heraus, jede Form von Höflichkeit vergessend: „Schnell, den Schlüssel, schnell, schnell!!"

Da der Pfarrer sofort begriff, was mit mir los war – ich denke selbst ein Kirchenmann wird Erfahrung mit dieser Art von körperlicher Not haben –, unterbrach er sein Gebet, eilte zum Pult und holte den mächtigen Schlüssel aus der Schublade. Mein Auftritt löste natürlich größte Heiterkeit bei meinen Kameraden aus, war es vorhin noch ein hämisches Grinsen, so äußerte sich der Hohn nun schon in lautem Gelächter. Ich riss dem Pfarrer den Schlüssel aus der Hand und rannte, so schnell es meine zusammengekniffenen Backen erlaubten, die Treppe hinunter. Meine Kameraden begleiteten meinen leidvollen Weg über den Kirchhof mit schallendem Gelächter am offenen Fenster. Endlich war ich wieder am Erlösung verheißenden Örtchen angekommen, das sich zum Glück den Blicken der am Fenster grölenden Kameraden entzog. Wieder stellte sich unmittelbar vor der Tür das gleiche Gefühl wie vorhin ein, die Darmmuskulatur verstärkte nun ihren Druck fast übermächtig auf den Ausgang in der Erwartung, dass es ja nun endlich zu einer Befreiung von dem peinigenden Darminhalt kommen würde. Meine Beine reagierten wieder mit ungeduldigem Gestampfe, so dass ich Mühe hatte, den riesigen Schlüssel in das dafür vorgesehene Loch zu bugsieren.

Doch ich schaffte es endlich, drehte am Schlüssel ...... doch er klemmte. Neuer Versuch, zurück zur Ausgangslage, doch das Schloss ließ sich trotz aller noch zur Verfügung stehender Kräfte nicht schließen. Ich versuchte es ein drittes Mal und unterstützte – kurzzeitig das Getrampel aussetzend – den Schließvorgang mit heftigen Tritten gegen die schwere Tür, aber es half alles nichts; die Tür zur sehnsüchtig erhofften Befreiung meiner unerträglich gewordenen Schmerzen widerstand allen meinen Bemühungen. Das war zu viel, mir standen die Tränen in den Augen, das Auf-der-Stelle-Trampeln half auch nichts mehr, ich rannte drei, vier Meter hin und her, versuchte es bei der unwilligen Tür noch ein letztes Mal und als auch dieser Versuch scheiterte, da wollte mein gefolterter Körper endgültig aufgeben und die peinigende Masse der Lederhose übergeben.  

Doch da sah ich sie.

Da stand sie, in der Ecke neben dem Toilettenhäuschen. In meiner Verzweiflung, die später in meinem weiteren Leben nach meiner Erinnerung kaum einmal größer gewesen ist, rannte ich hin, im Laufen zerrte ich mir den Doppelreißverschluss (auch das noch!) meiner Lederhose auf, riss mir die mit Hirschhornornamenten besetzten Hosenträger von den Schultern und zeitgleich öffnete ich den Deckel, schob Leder- und Unterhose nur knapp über den Poansatz – zu mehr hat leider die Zeit nicht mehr gereicht – und dann sprang ich wirklich im allerletzten Moment drauf.

Ja! ....... auf die geöffnete         30 l fassende            Blechmülltonne.

Und da eruptierte und explodierte es aus mir heraus, begleitet mit den für dieses Körperteil so typischen unverkennbaren Geräuschen. Ich fühlte mich erleichtert wie die aufgedunsene sizilianische Erde kurz nach einem Feuer und Lava speienden erlösenden Ausbruch des Ätna.

Verzückt von dem unendlichen Wohlgefühl wurde ich mir der Peinlichkeit meiner Lage gar nicht bewusst. Ich empfand unvorstellbare Dankbarkeit für die gerade im rechten Moment hilfreich in meinem Blickfeld erschienene Mülltonne. Ihre Öffnung war wie geschaffen für mein 13 Jahre altes, zu diesem Zeitpunkt noch sehr schmales Hinterteil, wenn auch der Sitzkomfort alles andere als bequem war. Zum Glück war das Fassungsvermögen, da vor meiner Besetzung nur zu dreiviertel gefüllt, auch ausreichend. So saß ich also da auf der Mülltonne und genoss das allmähliche Nachlassen des Darmdruckes, der arg strapazierte Schließmuskel erholte sich gerade und Erleichterung machte sich in meinem gesamten Körper breit.

Da        erschien          SIE.

Dieses rothaarige, sommersprossige, gefühllose, immer zeternde und keifende und kneifende, streitende und verletzende Ungeheuer von einem Mädchen.

Später hab ich mich oft gefragt, warum sie mir nicht nur noch eine einzige Minute gelassen hat.

.....

 

Schlappen

Schön ordentlich stehen sie da. So, wie sie immer gestanden haben. Parallel und in Laufrichtung ausgerichtet. Genau an der Stelle, an der sie stehen müssen, damit sie sofort hineinschlüpfen kann, wenn sie sich vital und energisch über die Bettkante schwingt.

Immer waren sie so ausgerichtet. Immer ist sie hellwach hineingeschlüpft, um dann forsch und ohne zu zaudern den Tag zu beginnen. Dann hat sie ihm das Frühstück gemacht, Kaffee gekocht und seine Sachen gerichtet, die er für den Tag brauchte.

Sie hat sie den ganzen Tag im Haus getragen. Und weil sie Umständlichkeiten hasste, mussten es immer Schlappen sein, weil sie schnell in sie hineinschlüpfen wollte. Immer schon war ihr Leben von schnellen ökonomischen Handgriffen und Überlegungen bestimmt. Da wäre es einfach schon zu viel und zu umständlich gewesen, sich erst bücken zu müssen, um der Ferse mit ihren Fingern Zugang in richtige Hausschuhe zu verschaffen. Deshalb mussten es immer wieder Schlappen sein. Am liebsten Filzschlappen.

Einmal hatte er ihr schöne, warme, gefütterte Hausschuhe zum Geburtstag geschenkt. Die hatte sie nach zwei Tagen heruntergelatscht. Sie hatte eben keine Zeit zu verschwenden. Alles musste immer ruck, zuck gehen und das umständliche Hineinfingern der Fersen in Hausschuhe war eben keine Tätigkeit, die man ruck, zuck machen konnte. Es war Verschwendung von Zeit. Es passte nicht in ihren Rhythmus, dafür durfte nicht eine einzige Sekunde vergeudet werden.

Deshalb immer Schlappen. Filzschlappen. Solche, wie sie jetzt wohl geordnet neben dem Bett stehen. So wie immer, solange er sie kannte. 53 Jahre lang. Ausgerichtet für den Tag, den sie immer so forsch angegangen war. Sofort, ohne Umstände hinaus in den Tagesablauf, keine Umwege, nur keine Verschwendung von Zeit.

Er war immer froh gewesen, dass sie ihm die kleinen Entscheidungen abgenommen hatte, damit der Raum für die größeren blieb, die ihm sein Alltag abverlangte. Sie suchte den passenden Schlips aus, das Hemd, das Jackett und die Schuhe. So hatte sie immer dafür gesorgt, dass er selbstsicher hinausgehen konnte. Sie verpasste ihm gewissermaßen die Rüstung, an der die Pfeile des Alltags abprallen konnten. Sie hielt ihm den Rücken frei, machte ihn stark und unverletzlich.

Nun sitzt er da, neben den sorgfältig ausgerichteten Schlappen, zusammengesunken, rüstungslos. Beige Schuhe zu graublauer Hose und stechend gemustertem Polo. Hilflos zusammengesunken, schwer tragend unter der Lebenslast.

Immer wieder bückt er sich hinunter, richtet sie neu aus, verschiebt sie wieder einige Zentimeter, berechnet, taxiert die Stelle, an der sie sich so wie früher energisch über die Bettkante schwingen soll. Er nimmt ihre warme, abgemagerte Hand und zieht zärtlich und behutsam, aber auch fordernd an ihr, so als wolle er ausdrücken: „Komm zurück ins Leben, zurück zu mir, lass mich nicht alleine!“ Doch sie reagiert nicht, sie kann nicht mehr reagieren und verstehen. Sie kennt ihn nicht mehr; sie kennt niemanden mehr.

Eine Schwester kommt, saugt ihr den Schleim ab, der ihr immer mehr den Odem nimmt, wäscht und dreht die abgemagerte, ausgemergelte Hülle des Lebens. Sie überprüft die Magensonde, verabreicht eine neuen Portion Astronautennahrung und wechselt den Beutel des künstlichen Ausgangs.

Und er sieht zu, hilflos entsetzt, verletzbar, eben rüstungslos, sieht zu und begreift, dass sie ihn nie wieder mit der täglichen Energie versorgen kann, die ihn immer so stark gemacht hat. Nie wieder.

Zärtlich streichelt er ihr Gesicht. Gebissloser, entstellter Mund, todesspitze Nase. Verschleierte, eingesunkene, leere Augen. Immer waren sie die Sender von Liebe, Freude, Tatendrang gewesen. Nun erkennen sie nichts mehr, sie erkennen ihn nicht mehr; der Sender ist tot. Sie bewegt die röchelnden Lippen und formt damit einige unverständliche Worte, tief aus der Erinnerung, und er begreift, dass die Worte nicht mehr ihm gelten, sondern einer anderen fernen Welt. Sie lebt, ist aber schon vor Wochen von ihm gegangen.

Er bückt sich, richtet für heute zum letzten Mal die Schlappen aus und geht. Schlurfend, eingesunken, rüstungslos, ungeschützt.